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Gisèle Freund. Photographien und Erinnerungen.

»Der Flug einer Gewehrkugel oder der Fall eines Milchtropfens, im millionstel Teil einer Sekunde aufgenommen – eine Technik, von der Wissenschaft für sie erfunden, – kann zu einem künstlerischen Erlebnis werden. Der abstrakte und harmonische Graphismus von Kristallen, von Zellen und pflanzlichen Partikeln, tausendfach vergrößert, oder nur einfach der schillernde Reflex eines Öltropfens in einer Wasserpfütze und viele andere Details unserer täglichen Realität, an denen wir achtlos vorbeigehen, die aber vom Auge eines kreativen Photographen sichtbar gemacht worden sind, werden zu Bildern von seltener Schönheit.«
(Gisèle Freund: Memoiren des Auges, Frankfurt/Main 1977, S. 133)

Sie wurde zur Pionierin der Photographie im zwanzigsten Jahrhundert. Als Photoreporterin für die Zeitschriften Life, Time Magazine, Picture Post und für die Agentur Magnum, als Soziologin und Theoretikerin der Photographie, vor allem aber als leidenschaftliche Portraitistin der internationalen Literatur-Avantgarde von Paris. Dabei verwendete sie eine damals bahnbrechende Neuentwicklung – den 1938 auf den Markt gekommenen 35-mm- Farbfilm. Gisèle Freund war eine Berliner Jüdin aus wohlhabender und kunstsinniger Familie. Zwischen 1933 und 1935 schrieb sie in Frankreich die erste Doktorarbeit über Photographie. Die Machtübernahme der Nationalsozialisten zwang die 24-jährige Studentin der Soziologie bei Theodor Adorno, Karl Mannheim und Norbert Elias in die Emigration nach Paris und lenkte ihr weiteres Leben in ganz andere Bahnen als vorgesehen – die Photographie wurde zu ihrem Lebensunterhalt. Mit ihrer Leica-Kamera hatte sie Anfang 1933 junge deutsche Studenten beim Hitlergruß und auf der anderen Seite die blutigen Körper ihrer Kommilitonen dokumentiert, »die von den Hitlerleuten fast totgeschlagen waren« (Gisèle Freund: Memoiren des Auges, S. Fischer Verlag 1977, S. 12) . Gisèle Freund machte ebenso beeindruckende historische Aufnahmen vom »1. Internationalen Schriftsteller-Kongreß zur Verteidigung der Kultur« im Juni 1935 in Paris. Im gleichen Jahr entstand ihre Reportage über die tristen Daseinsbedingungen in den Notstandsgebieten Nordenglands für die Zeitschrift Life. Ein weiterer Auftrag von Life ließ sie über die Modenschauen von Paris, die noch im Februar 1940 stattfinden konnten, berichten. Berühmt wurde sie auch mit ihrer enthüllenden Reportage über das luxuriöse Privatleben von Evita Perón im Jahr 1950, und löste damit diplomatische Verstimmungen zwischen Argentinien und den USA aus.

Für die Poesie und die Schönheit eines »Milchtropfens« oder »von Kristallen« konnte sie sich vorläufig nicht begeistern – dafür umso mehr für »die Intimität der Gesichtslandschaft« (Gisèle Freund: Photographie und bürgerliche Gesellschaft. Eine kunstsoziologische Studie, München 1968, S. 55; die französische Erstausgabe erschien 1936 bei La Maison des Amis des Livres, Paris),die sie in den charaktervollen historischen Künstlerportraits von Nadar (1820–1910) so bewunderte, in ihrer Doktorarbeit beschrieb und später in ihrem eigenen Portraitwerk erforschte. Die im Elternhaus vermittelte Liebe zur Literatur und zur Kunst mag sie schon früh geprägt haben. Ihr Widerstand und ihr Überlebenswille steigerten ihr Bedürfnis nach intellektuellem Austausch und Freundschaft weiter. In Paris war sie ganz auf sich allein gestellt und suchte das Umfeld der Schicksalsgemeinschaft von Literaten, Philosophen und Künstlern. Von ganz wenigen Auftragsportraits abgesehen, zum Beispiel für André Malraux 1935 oder James Joyce 1939, dokumentierte sie ihre privaten Begegnungen mit Walter Benjamin, T. S. Eliot, Paul Valéry, André Gide, Jean Cocteau, André Breton, Louis Aragon, Jean-Paul Sartre, Simone de Beauvoir, Thornton Wilder, Peggy Guggenheim, Marcel Duchamp, Colette, Victoria Ocampo, George Bernard Shaw, Virginia Woolf und vielen anderen. Die Aufnahmen sind fast beiläufig – während des Gesprächs – entstanden und beeindrucken durch ihre ungewöhnliche Vertrautheit. Sie sind weder im »Paparazzistil« erjagt, noch im Studio inszeniert oder durch Retouchen im Nachhinein verändert. Auch wenn überliefert ist, daß Georges Duhamel darüber seufzte, daß er sich besser hätte rasieren sollen an dem Tag, François Mauriac lieber zwanzig Jahre früher photographiert worden wäre und André Maurois bedauerte, daß sie ihn nicht mit seiner photogenen Uniform der Académie française aufgenommen hatte (Hans Joachim Neyer: Gisèle Freund. Eine Ausstellung des Werkbund-Archivs Berlin, Berlin 1988, S. 13f. ) – für die Nachwelt sind sie authentische, weil freiwillig gewährte Charakterbilder. Und sie sind Spiegelbilder des besonderen Blicks der herausragenden Persönlichkeit von Gisèle Freund.

Zu ihren Photographien hat Gisèle Freund ihre Erinnerungen aufgeschrieben. So entstand das einzigartige Bild-Tagebuch einer Weltreisenden durch Kunst und Literatur. Der Verlag Schirmer/Mosel ehrt Gisèle Freund, die in diesem Jahr ihren 100. Geburtstag gefeiert hätte, mit einer Neuauflage ihrer 1985 erstmals erschienenen autobiographischen Monographie.

In Zusammenarbeit mit der Sammlerin Dr. Marita Ruiter, Galerie Clairefontaine, Luxemburg, widmet ihr die Versicherungskammer Bayern – erstmals in München – diese Ausstellung.

Katalog

Gisèle Freund. Photographien und Erinnerungen. Mit autobiographischen Texten und einem Vorwort von Christian Caujolle. 224 Seiten, 205 Farb- und Duotone-Tafeln. Format: 23 x 29 cm. Schirmer/Mosel. Wiederauflage München 2008

Kuratorin

Isabel Siben